Gedanken unseres Vaters +Thomas zum Ende der Reformationsdekade
Die Feierlichkeiten zu 500 Jahren Reformation haben die evangelischen Kirchen gerade begangen, ohne nach der Kontinuität des Christlichen über die Jahrhunderte hinweg zu fragen und zu suchen. Die christliche Kirche hat eine Herkunft. Wo liegen die Anfänge des Christentums und wie verpflichtend sind sie? Wie viel Inspiration birgt die Überlieferung, was überlagert ihren Kern, was entstellt ihn?
Es reicht nicht an einer bestimmten Stelle einzusetzen und das andere zu überspringen und für überwunden zu erklären. So ist es kurios, wenn mit einem Paukenschlag (wie Luthers 95 Thesen und weitere reformatorische Schriften) eine Zäsur gesetzt wird. Die Bruchstelle, die so entsteht, wandelt sich in wenigen Jahrzehnten zu einem Ausgangspunkt für eine neue Traditionskette. So scheint Herkunft und Verankerung geklärt zu sein. Der Bruch wird zur unbefragten Voraussetzung. Der Einschnitt in die Kirchengeschichte und in die christliche Traditionsgeschichte wird mit der Gewissensbedrängnis Martin Luthers, also eines Einzelnen begründet, die eine theologische Grundeinsicht auslöst, die damals Resonanz fand, heute aber kaum noch plausibel erscheint. (Bei der 500 Jahrfeier hat es abenteuerliche Übertragungen des reformatorischen Impulses in die Gegenwart gegeben, die bei der Fachwelt Kopfschütteln und Kritik hervorgerufen haben. Es ist nicht gelungen, das spezifisch Reformatorische glaubwürdig zu begründen.)
Der Augenblick (des reformatorischen Einfalls) zerreißt die Kontinuität der Kirche. Eine Kontinuität, die die jeweilige Zeit mit dem Ursprung in JEsus CHristus und der apostolischen Zeit verbindet, geht verloren und an ihre Stelle tritt das Ergebnis eines Momentums, das Neues schafft und sich zugleich an eine bestimmte Zeit (Epoche) bindet. Hinter dem Rücken des vermeintlich glücklichen Augenblicks wird das christliche Erbe geplündert und die Kirche an die Herrschenden ausgeliefert: Der Summepiskopat des Landesherrn (des jeweiligen Fürsten oder Königs) legitimiert bzw. karrikiert das königliche Pfarramt: Es ist nicht mehr das Pfarramt der Königs und Erlösers JEsus CHristus sondern des weltlichen Ersatzmannes.
1917 neigt sich der 1. Weltkrieg einem katastrophalen Ende zu und einige evangelische Christen werden nachdenklich. So verfaßt der schleswig-holsteinische Pfarrer Heinrich Hansen 95 neue Thesen zum 400. Reformationsjubiläums, die die landeskirchliche Selbstsicherheit infragestellen. Im Herbst 1918 wird insbesondere einigen königlich preußischen Pfarrern und Christen klar, daß die evangelischen Kirchen ihre Legitimation längst eingebüßt haben: Ihre treue Begleitung der bürgerlichen Behaglichkeit in einem paternalistischen Staat hat sich als fragwürdig erwiesen und deshalb versuchten sie den christlichen Faden aus einer verwirrten und irritierten Gesellschaft heraus aufzunehmen und in die Urspünge der apostolischen Zeit zurückzuverfolgen. Leider wurden diese Versuche sehr bald überlagert durch einen säkularen Nationalismus und ein teils erzwungenes und teils ergebenes Verhältnis zu den neuen Machthabern: Die evangelische Kirche verschwistert sich erneut mit den Herrschenden. Das Freisetzende, das Ewigkeitliche, das Reich GOttes wird bis heute durch die jeweils Herrschenden manipuliert und mittlerweile ins Soziale und Menschheitliche hinein aufgelöst: Der Gottesdienst wird zum Menschendienst, zum Zuspruch für die jeweiligen Ideologien.
Wir leben in und mit dem Verlauf der Zeit, der sich wie ein Fluß einen Weg durch das Vorgegebene sucht und dabei auf die Gebirge von Überlieferungen stößt, die andere Zeiten aufgetürmt haben. Der Strom der Zeit trägt diese Gebirge mit Kraft und Ausdauer ab und schafft so Platz für eigene Gedankengänge. Wenn seine Kraft zum Fortschwemmen nicht reicht, windet er sich um sie herum. Er biegt, verbiegt und zerschneidet sie. So angenehm es ist, sich vom Strom der Zeit tragen zu lassen, wir sind Landbewohner. Wir können im Wasser baden, aber nicht in ihm leben. Wir leben in und von einer geistigen Landschaft, die gemächlich dahinfließende und reißende Ströme kennt, aber auch Flachland mit vielen guten und schlechten Gewohnheiten. Die Gebirge der Überlieferungen schenken uns ungewohnte Ausblicke, wenn wir sie durchwandern und erklettern. So entdecken wir Landschaften von Glauben und Denken in ihrer zeitlosen Schönheit.
Vater +Thomas