Haus Sonneck liegt auf einem Berg hinter einer steilen Kurve. Manchmal frage ich mich, ob das Auto die Steigung noch schafft. Oder ist das nur ein Sinnbild für den eigenen Anstieg, den weiten Weg vom Alltag her auf dieses sonnige Eckchen Erde?
Ich weiß keine Antwort auf diese Frage. Aber sozusagen aufgefangen war sie in den ersten Übungen nach der Vesper, zu der die meisten schon da waren. Wir lernten den vertrauten und doch jedes Mal überraschend neuen tonus peregrinus, den Pilgerton, den Ton der Fremdlingschaft des wandernden Gottesvolkes hier auf Erden. Er ist alt, wenn auch nicht so alt wie die ersten acht Töne der gregorianischen Musik. Und er schmeckt nach einem fernen, vertrauten und unbekannten Land.
Der Mittwoch begann mit den Laudes, einige noch verschlafene Gesichter wandten sich den Ikonen im Oratorium und einander zu. Sie sollten mit jedem Morgen wacher und heller werden. In der Hl. Messe, die unser Vater +Thomas zelebrierte, spendete er unserem Nachwuchs die Firmung. Liebevoll leuchtete sein Gesicht beim Backenstreich, der mehr ein gütiger, väterlicher Anhauch war einer milden Hand im Gesicht der Novizen.
Am Nachmittag standen wir in der Kirche St. Martin, deren Gemeinde uns seit Jahren freundlich willkommen heißt und dieses Jahr ihr 50-jähriges bestehen feiert. Hier führten unsere Brüder Pirminius und Johannes Chrysostomos uns in die Feinheiten des Levitendienstes und Altardienstes ein. Es gibt gerade bei den oft aufwendigen Feiern der Liturgie immer wieder kleine Unebenheiten zu schleifen und so zu höherem Glanz zu bringen, der den Allmächtigen umso mehr verherrlichen soll. Zeitgleich unterwies Br. Cyprianus unsere Novizen im aufeinander hörenden Gebet. Für unsere Novizen, die in die Gemeinschaft hineinwachsen wollen, stellt das gemeinsame Stundengebet der Geschwister oft die größte Faszination und zugleich aber auch die größte Hürde dar. Deswegen steht das Erlernen der Durchführung, des Aufbaus, ja letztlich umfassend gesprochen der Theologie des Stundengebetes im Zentrum des Novizenunterrichtes.
In der Feier der Messe am Donnerstag wurden zwei unserer Brüder mit dem Ostiariat, dem Türhüter- und Sakristanendienst beauftragt. Ihre Kerzen brachten sie dar zum Zeichen ihrer Dienstbereitschaft. Dieser Dienst ist der erste in einer langen Reihe von Beauftragungen und vermutlich der körperlich anstrengendste, umfasst er doch all die logistischen Handreichungen und Vorkehrungen, die für jede Feier der Heiligen Eucharistie vonnöten sind. Da ist die Kirche zu öffnen, die Sakristei zu bereiten, der Kirchraum zu reinigen, die Gewänder zu pflegen und auszulegen, die vasa sacra und alle metallenen Gegenstände in Schuss zu halten und zu polieren und so weiter und so fort. All das steht am Anfang und ist nicht nebensächlich, sondern enthält wie jedes labora das ora. Ist also in seinem Vollzug leibliches-tätiges Gebet und ebensolcher Ausdruck der Liebe zum Herrn. Am Nachmittag dann wuchs unsere Gemeinschaft um ein neues Glied. Schwester Heike trat ins Noviziat unserer Bruderschaft ein. Dies war für die gesamte Gemeinschaft ein großer Grund zur Freude! Der Non folgte still und ehrfürchtig die Anbetung des Allerheiligsten.
Am Freitag war ein großer Tag mit vielen Gästen aus nah und fern, und in gewisser Weise wuchs auch hier unsere Gemeinschaft, nämlich um zwei Diener im Dienst des Diakonats. Habe ich schon erzählt, dass die Sonne schien? Sie schien, nicht nur am Sonneck, sondern über ganz Marburg von einem klaren, blauen Himmel herab, als würden alle himmlischen Heerscharen lachen und sich mit uns freuen.
Der Nachmittag bot dann wieder Zeit und Luft für das geschwisterliche Beisammensein, das wir nach der Non im Marburger Michelchen gegenüber der alten und ehrwürdigen Elisabethkirche pflegen. Zum Michelchen gehen wir seit einigen Jahren, weil unser Vater +Irenäus hier 1929 begann mit ein paar seiner Studenten die heilige Eucharistie zu feiern. Es ist gewissermaßen der Geburtsort unserer Gemeinschaft. Dort mitten in Marburg. Mir ist diese Zeit besonders lieb. Gespräche ergeben sich, die auf ihre Gelegenheit gewartet haben. Lachen im Sonnenschein, gemeinsame Wege ereignen sich. Und manch alten Bruder dürfen wir jungen noch einmal ganz neu kennenlernen.
Abends beriet sich die Gemeinschaft im eigentlichen Gesamtkonvent. Wir hörten von heimgegangenen Geschwistern ebenso wie von solchen, die schöne Jubiläen ihres geistlichen Weges begingen. Grüße flogen durch den Raum und wir nahmen gemeinsam die kommenden Tagungen in den Blick. Im Herbst der Schwanberg. Dann wieder Marburg. Schwanberg, Marburg — wie das Jahr der Kirche geben die gemeinsamen Zeiten den Geschwistern im Kleinen eine Struktur und Zuversicht auch über manch beschwerlichen Alltag hinweg.
Schon war Samstag. Noch immer fühlte ich mich wie ein Pilger, unstet in der Seele, den Pilgerton von allen am meisten im Ohr. Umso erstaunter war ich, dass es dem HERRN gefiel, meinen ersten Dienst als Zeremoniar in der Messe in fast traumwandlerischer Sicherheit anzuleiten. Wie schon tags zuvor die Diakone lagen die Kandidaten des Subdiakonats ausgestreckt zur Allerheiligenlitanei, in die eingesenkt und gleichsam von ihr umarmt ein Kerngeschehen der Weihehandlung lag: die dreifache Segnung der sich an den Altar hingebenden Kandidaten.
Noch opfern sie den Kelch nicht mit, wie es die Diakone tun, eine Hand daran, während der Priester ihn erhebt. Doch sie treten ein in die Bereitung der Eucharistie. Der Subdiakon holt den verhüllten Kelch und trägt ihn zum Altar, er fügt den Tropfen Wasser hinzu, der auf die menschliche Natur Christi weist, und reinigt die Gefäße zusammen mit dem Priester. Im Hochgebet kniet er an der Linken des Priesters und vertritt aufschauend zur Hostie zusammen mit dem Diakon die Engel Gottes. Er singt die Epistel und begleitet den Diakon zum Evangelium. Auch steht er in der Reihe der Altardiener auf der untersten Stufe, dass der Weg zum Heiligtum in den Leviten sichtbar wird, ohne das Heilige zu enthüllen. Die Tunicella, um den Körper des Subdiakons gelegt und viel augenfälliger als sein eigentliches Standeszeichen, der Manipel als Tuch der Tränen des heiligen Dienstes, schützt den Altar vor unreinen Blicken und zeigt doch unmissverständlich an, was dort geschieht.
Der Reisesegen beschloss die Messe. Und wir zogen unserer Wege. Ist es nicht sonderbar? Hier gerade hatte ich den Eindruck, anzukommen. So ist es aber, ich sang es mir innerlich vor, im Ton der Pilger: „Denn wir haben hier keine bleibende Statt, sondern die zukünftige suchen wir.“ (Hebr 13,14)
Wer sich dafür entscheidet, zu prüfen, ob er zum Leben in unserer Gemeinschaft berufen ist, nimmt den Pilgerstab an und auf sich als sein tägliches Kreuz. Das, oft schmerzhafte, Auseinandergehen ist nicht unliebsames Beiwerk unserer Lebensform, sondern ein wesentlicher Bestandteil. Die Geschwister der Johannesbruderschaft sind Geschwister der Wüste. Und auch wenn er nicht der Patron unserer Gemeinschaft ist, passt doch die einsame, zurückgezogene Lebensart des Heiligen Johannes des Täufers gut als Vorbild auf uns. Keiner aber ist allein in der gewählten und gesegneten Einsamkeit. Brennt die Sonne zu heiß, sind die Nächte der Wüste zu kalt: So sind wir einander Schatten vor der Hitze, Licht und Wärme vor dem Frost, als Pilger gemeinsam auf dem Weg.
Bruder Columbanus